Manchmal fällt das Marmeladenbrot auf die trockene Seite

„Hallo.“
„Hi.“
„Ist das deine Gitarre hier?“
„Ja. Ich komme gerade vom Unterricht.“
„Was ist das für eine Gitarre?“
„Eine Ovation.“
„Ich spiele nämlich auch Gitarre, weißt du. Gefällt es dir?“
„Der Unterricht? Manchmal ist er langweilig.“
Ich halte ihr meine Zigarettenpackung hin. Sie schüttelt den Kopf.
„Ist auch besser so. Ich habe mal für fast zwei Jahre aufgehört, aber das habe ich nur geschafft, weil es mir völlig egal geworden war. Erst wenn einem etwas egal wird, kann man leicht damit aufhören.“
Ich stoße eine Rauchwolke aus und blinzle in die Sonne.
„Ich mag es, wenn der Frühling anfängt. Erinnert mich daran, wie es ist, wenn man sich verliebt. Bist du gerade verliebt?“
„Ja.“
„Ich verliebe mich immer in Schauspielerinnen, die meinen Ex-Freundinnen ähnlich sehen. Meinst du, das ist schlimm?“
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Mir ist kalt.“
„Wusstest du, dass Kälte und Wärme nur unterschiedlich schnell bewegte Teilchen sind? Du verbrennst dich deswegen an einer heißen Herdplatte, weil sich die Teilchen auf der Herdplatte schneller bewegen, als die Teilchen auf deiner Handinnenfläche. Faszinierend, nicht wahr?“
„Ich weiß nicht.“
„Ich bin hier mal ganz in der Nähe mit meiner damaligen Freundin spazieren gegangen. Wir hatten uns zum ersten Mal gestritten, und ich dachte damals noch, die Welt geht unter, wenn man sich mit jemandem streitet, den man liebt. Eine Stunde später war alles wieder in Ordnung und sie gab mir einen Zungenkuss. Meine Güte, wie sich alles mit der Zeit abnutzt. Die Partner, die Streits und sogar die Zungenküsse.“
Ich sauge an meiner Zigarette.
„Willst du nicht mal was erzählen, hm? Hast du schon mal mit Zunge geküsst?“
„Noch nie. Ich werd nie geküsst werden.“
„Ach, erzähl nicht! Jeder wird geküsst. Und man weiß es mehr zu schätzen, als wenn es mit dreizehn hinter irgendeiner vergammelten Scheune passiert.“
Ich schaue mich um. Es ist immer noch niemand zu sehen, und es ist kein Geräusch eines näherkommenden Autos zu hören. Nur die Blätter rauschen und ein paar Raaben sitzen krächzend in den Bäumen. Ich werfe den Zigarettenrest auf den Boden und zünde mir eine Neue an. Meine Hände zittern. Ich hätte jetzt gerne ein Bier.
„Wie war es denn bei dir?“, fragt sie.
„Der erste richtige Zungenkuss? Lass mich überlegen. Ich war 15 Jahre. Sie war ein polnisches Mädchen. Hanka. Wir sind mit unserem Chor an die Ostsee gefahren. Ich saß mit ihr die ganze Nacht am Strand und früh am morgen, als die Sonne aufging und ich dachte, das wird wohl nichts mehr, hat sie die Sache in die Hand genommen. Hey! Bist du noch da?!“
„Mir ist so kalt.“, sagt sie und ihre Augen fallen zu. Meine Füße beginnen zu kribbeln und eine eigenartige Taubheit kriecht mir die Beine hoch.
„Mädchen, die Sonne scheint, es sind mindestens zwanzig Grad, dir kann doch nicht kalt sein!“
Einmal sah ich einen Mann in einem hellblauen Trainingsanzug, der sich vor einen Betonmischer geworfen hatte. In der Art, wie er auf der Straße lag, musste ich an einen Sack durcheinandergewirbelter Kleiderbügel denken. Ganz so schlimm sieht sie nicht aus. Einer ihrer Schuhe liegt auf der Straße. Ich wünsche mir kurz, ich hätte ihn übersehen. Doch im Leben geht es weder um Wünschen noch Wollen. Je früher man das einsieht, desto besser ist es für Blutdruck und Verdauung. Ich werfe die gerade angefangene Zigarette weg, knie mich hin und fasse an ihre Schulter. In all den Jahren, in denen ich hier wohne, bin ich höchstens ein halbes Dutzend Mal den Weg an der Trassenheide entlanggegangen, doch das Wetter war heute einfach zu schön, als den Tag nur auf dem Balkon zu verbringen und sich volllaufen zu lassen.
„Mach die Augen auf, Mädchen!“
Mir wird schlecht. Kein Kater-ist-mir-schlecht und kein die-Fischbüchse-war-wohl-doch-abgelaufen-schlecht. Ich drücke ihre Schulter etwas fester. Ihre Lider öffnen sich. Sie hat braune Augen. Ich mag lieber blaue Augen. Oder graublaue. Oder grüne. Grüne Augen mit roten Haaren. Mit roten lockigen Haaren.
„Reden sie mit ihr.“, hat die Frau mit der abgeklärten Stimme am Telefon gesagt: „Halten sie sie wach und versuchen sie auf keinen Fall, sie zu bewegen.“
„Ich werd dir was erzählen, ok?“
Ich schlucke den Speichel herunter, der sich immer schneller im Mund ansammelt.
„Als ich zehn Jahre alt war, ging ich nach Schulschluss nach Hause.“, fange ich an: „Es war ein sonniger Tag, ich dachte daran, dass ich morgen das Milchgeld mitbringen musste. Ich würde Mutti Bescheid sagen und sie würde es morgen früh auf den Küchentisch legen. In diesem Augenblick wurde ich am Genick gepackt. Ich drehte mich um und sah, dass zwei ältere Jungen hinter mir standen und mich angrinsten. Es war kein freundlichen Grinsen. Einer hatte mich am Genick, der andere packte meinen Arm. Sie zerrten mich in eine Seitenstraße. An dem Tag verlor ich den Glauben an die Menschen. Weißt du warum? Während sie mich wegschleiften, nahm kein Erwachsener Notiz von mir. Meine Eltern hatten mir immer gesagt, falls jemand versuchen sollte, mich mitzunehmen, sollte ich ganz laut um Hilfe schreien. Ich schrie um Hilfe, aber die großen Menschen gingen einfach weiter. Sie ignorierten mich, als wenn ich nicht existent wäre. Dass liegt vielleicht daran, dass die verschiedenen Alterstufen in völlig verschiedenen Welten leben. Wann nimmt man als Erwachsener schon ein Kind wahr? Doch nur, wenn es schreit. Aber selbst dann denkt man meistens nur: Halt die Klappe und nerv mich nicht. Bist du noch bei mir?“
„Erzähl weiter.“
„Ein Gefühl völliger Einsamkeit überkam mich. Mit diesen Jungs war etwas nicht in Ordnung, sie würden mir sehr weh tun, ohne dass es sie kümmern würde. Hast du schon mal gesehen, wie Kinder Tiere quälen können? Genau diesen Ausdruck hatten sie auf den Gesichtern. Was sollte ich tun? Mich wehren und schreien? Sie anflehen, mich gehen zu lassen?“
Endlich ein näherkommendes Geräusch. Und es ist sogar das Richtige. Der Gesang, mit dem mich die Engel in den Himmel tragen werden, wird nicht besser klingen.
„Warum hörst du auf?“, fragt sie.
„Ach nichts, ich habe bloß...ich habe was gehört, wir sind gleich nicht mehr alleine, jemand kommt gleich vorbei.“
„Was ist passiert?“
„Passiert?“
„Was haben die Jungs mit dir gemacht?“
„Ja, die Jungs. Sie drängten mich in einen Toreingang und verpassten mir Magenstüber. Während sie das taten, erzählten sie mir, was sie alles mit mir machen würden. Einer hatte eine dicke Holzstange dabei. Er sagte, damit würde er mir das Gesicht einschlagen, doch vorher müsste ich mich hinknien und meine Brille abnehmen, damit er mich besser treffen könnte. Er sagte das mit einer Ernsthaftigkeit, dass ich vor Angst meine Blase nicht mehr halten konnte.“
Ich winke dem näherkommenden Auto und beuge mich wieder zu ihr.
„Ich nahm meine Brille ab und legte sie auf den Boden. Und dann passierte etwas Seltsames. Der Typ mit Holzstange holte aus, zögerte ein paar Sekunden, holte wieder aus, ließ den Stock sinken und sagte zu seinem Freund: „Ich kann den Furz nicht schlagen, der schaut mich an wie ein Karnickel. Hast du gesehen, wie er seine Brille abgenommen hat?“ Er hob sie vom Boden auf, und gab sie mir. Bevor ich wegrennen konnte, bekam ich noch einen Tritt in den Hintern, genau auf das Steißbein. Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen. Aber das war mir egal. In der einen Sekunde dachte ich, mir würde mein Gesicht eingeschlagen und in der Nächsten lief ich mit eingepisster Hose durch die Stadt und war so glücklich, wie noch nie in meinem ganzen Leben.“
Die Krankenwagentür öffnet sich, zwei Männer springen heraus.
„In einer Sekunde denkst du, alles ist vorbei und in der nächsten lächelt das Schicksal und lässt dich nochmal davonkommen. Wie ist überhaupt dein Name?“
„Frauke.“
„Manchmal fällt das Marmeladenbrot auf die trockene Seite, Frauke.“
Die Männer sind da. Einer von ihnen hat eine Tasche in der Hand. Ich nestele zitternd eine Zigarette aus der Packung. Ich hätte jetzt gerne ein Bier.

Copyright © by Denny Hellbach