Klassentreffen

"Jeder schafft sich seine eigene Hölle selber." Tarnas Schinkel

Schwarz ist die Holzmaserung auf dem braunen Tisch. Vielleicht ist es auch nur eine angeklebte Folie, die über die dicke Styroporplatte drübergeleimt wurde. Keine Ahnung. Keine Ahnung, ich lasse einfach nur meine Augen darüber wandern, über die schwarze Holzmaserung, über die leicht angegilbten Bierdeckel und die Aschenbecher, in denen sich acht Zigarettenstummel befinden und die Asche, die Asche natürlich. Einige Bierglasränder sind auf dem Tisch mit der schwarzen Holzmaserung zu sehen, diesem langen Tisch mit der Holzmaserung, angeklebt oder nicht. Exakt zwanzig Stühle stehen um den Tisch. Neunzehn dieser zwanzig Stühle sind belegt. Auf den Stühlen sitzen wir. Alle - außer mir - haben ein Glas vor sich: acht Leute mit einem Glas Bier, fünf ein Glas Wein - zweimal Rotwein, dreimal Weiswein - zwei haben sich ein Wasser bestellt, drei eine Apfelschorle. Macht achtzehn Leute. 13 die Alkohol trinken und fünf die keinen Alkohol trinken. Sicher müssen die fünf noch mit dem Auto nach Hause fahren, nachdem das hier vorbei ist. Deswegen dürfen sie nur Wasser trinken. Oder Apfelschorle. Oder sie mögen keinen Alkohol.

Ich habe noch nichts bestellt und wippe nervös auf meinem Stuhl hin und her, vor und zurück, vor und zurück, ungefähr zweimal pro Sekunde, also einhundertzwanzig Mal in der Minute. So ungefähr jedenfalls. Genau mitzählen tue ich natürlich nicht, das wäre ja verrückt. Ich schaukele vor und zurück, schaue auf den Tisch und warte. Warte, obwohl fast alle schon da sind - zum zweiten Klassentreffen seitdem uns die Schule ausgeworfen hat. Wir sitzen in Grüppchen um den Tisch und unterhalten uns, leise, im gedämpften Ton, nur manchmal unterbrochen durch ein Lachen. Tino ist da, und Peter und Steffen und André und Ronald. Älter sind wir geworden. Ja - älter wird jeder. Bei einigen Jungs lichtet sich schon das Haar. Mit 25 Jahren. Was soll man dagegen tun? In fünf oder zehn Jahren ist alles weg. Anmerken lassen sie sich deswegen natürlich nichts. Bei Männern ist das sowieso egal, wie sie aussehen, nicht wahr? Haare oder keine Haare, spielt keine Rolle. Hauptsache der Job stimmt und das Geld und die Gesundheit und alles. Ich habe noch alle Haare. Spielt zwar keine Rolle, aber ich finde es trotzdem gut, noch alle Haare zu haben. Neulich habe ich gelesen, das Männer mit Glatze irgendein Männlichkeitshormon ausstoßen, dass sie für Frauen attraktiver macht. Oder war es ein bestimmter Geruch? Ich weiß es nicht genau, auf jeden Fall zieht das Frauen an. Da kann schon was dran sein. Schließlich hatte Cornelias Neuer auch eine Glatze. Drei Wochen später kam sie mit ihm an, dem Glatzkopf, nachdem sie mir auf dem Weg zu unserem ersten Klassentreffen vor drei Jahren gesagt hat, dass es aus sei, aus. Aus, Schluss, Ende. In der S-Bahn war das, fast genau heute vor drei Jahren. Aus, hat sie gesagt. Nein - das hat sie nicht gesagt, sie sagte, sie antwortete mir, nachdem ich sie gefragt hatte: „Was ist denn nur los?“ mit: „Ich liebe dich nicht mehr.“ Fünf Wörter. Nicht die berühmten drei, sondern nur die etwas weniger berühmten fünf. (1)Ich (2)liebe (3)dich (4)nicht (5)mehr. Einfach zwei Wörter drangehängt. Wörter sind schon eine seltsame Sache. Hängt man einfach zwei von den Dingern an einen Satz dran und schon ergibt sich eine entscheidende Änderung. In der S-Bahn hat sie mir das gesagt, irgendwo zwischen zwei Haltestellen. Nicht zu Hause oder irgendwo im Stillen, wo nicht so viele Leute herumsitzen, die einen dann beobachten können, wie man anfängt zu heulen und vor Fassungslosigkeit innerlich durchgeschüttelt wird. Nein, in der überfüllten S-Bahn mit einem resignierenden Schulterzucken. Fünf Wörter für fünf Jahre.

Ich schaue weiter auf die Bier- und Weingläser, die Apfelschorlen und wippe vor und zurück. Und warte. Warte auf sie. Warte, dass sie erscheint, dass sie durch die Tür am anderen Ende des Saales kommt und sich zu den acht Bier, zwei Wassern, drei Apfelschorlen, fünf Glas Wein - zweimal Rotwein, dreimal Weiswein - setzt. Zehn Minuten über dem vereinbarten Zeitpunkt ist sie schon. Zehn Minuten. Punkt acht Uhr war als Zeit vereinbart. Ich war schon eine halbe Stunde vor acht da. Hoffentlich hat das nicht so ausgesehen, als wenn ich unbedingt zu diesem Klassentreffen wollte. Vielleicht hat auch niemand darauf geachtet. Grit und Astrid waren schon vor mir da. Und Ronald. Ronald mit der Zahnspange, den wir früher immer gehänselt haben, weil unser Klassenlehrer ihn mal als dreckiges Pfannkuchengesicht bezeichnet hat. Das ist ihm bis ans Ende der Schule hängen geblieben. Ich weiß nicht, ob er sich daran noch erinnert. Obwohl - sicher erinnert er sich noch daran. In der Hofpause von der halben Klasse als dreckiges Pfannkuchengesicht gehänselt zu werden - so etwas vergisst man nicht. Verdrängen kann man das sicher die meiste Zeit, vor allen Dingen, wenn man erwachsen ist, sich vom Job, von der Frau, von den Raten auf den Wagen langsam in Scheiben schneiden lässt - aber manchmal erinnert man sich daran, gerade bei solchen Treffen. Anfangs vielleicht noch nicht - wenn die ersten Begrüßungen gemacht werden und sich das „Wie geht’s?“-„Was machst du gerade“-Karussell dreht, aber später - nach ein paar Bier oder Apfelschorlen - und den hervorgekramten Erinnerungen erinnert man sich, denn was hat man sich denn sonst zu erzählen, was teilt man denn sonst noch, als die gemeinsam verbrachten Jahre zwischen Schulbank und Pausenhof?

Cornelia und ich haben noch etwas mehr Zeit geteilt, vier Jahre mehr, also insgesamt fünf, eins davon in der Schule. Wo bleibt sie eigentlich? Dreizehn Minuten ist sie schon über der Zeit. Wir waren das Klassenpärchen, von dem alle überzeugt waren, dass es hält. Wenn schon nicht für immer, dann wenigstens für eine Ehe mit zwei Kindern. Fünf Jahre haben wir es zusammen geschafft. Über tausend Tage von gemeinsam verbrachten Minuten und Stunden, wohl um die fünfhundert Nummern und Nümmerchen, Millionen dem anderen gesagten Wörter, gemeinsame Essen, so viele Bilder, Wörter, Empfindungen. Aber ich kann mit ihr keine Erinnerungen teilen, denn sie ist nicht hier. Drei Jahre nach dem ersten Klassentreffen, drei Jahre nach der Trennung ist sie nicht da - und ich sitze hier, gucke auf die Bierdeckel und Gläser und die Holzmaserung und schaue auf die Uhr: Schon fünfzehn Minuten ist sie über die Zeit. Drei Jahre ist es her und ich will sie doch einfach nur sehen. Nur sehen, wie es ihr geht und mich ein bisschen mit ihr unterhalten. Small-Talk - mehr nicht und sie anschauen, ob sie älter geworden ist, ich meine, sichtbar älter geworden ist. Alle Haare wird sie wohl noch haben, sie ist ja kein Mann. Sie soll sehen, dass ich auch noch alle Haare habe, obwohl ich ein Mann bin. Alle Haare habe ich noch, keine Glatze, keine Geheimratsecken, nichts. Sie soll sehen, dass es mir gut geht. Volle Haare, voller Erfolg im Job. Und überhaupt voller Erfolg. Das will ich ihr doch nur sagen. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, die Stimme zum lockeren Plauderton verstellt. Selbstsicheres Auftreten. Alles in Ordnung mit mir, ja, Freundin - klar - und auch die Arbeit macht irre viel Spaß. Anstrengend und fordernd - aber gefordert wird man heutzutage überall, wenn man nach vorne kommen will. Stress? Na ja, Ruhe gibt es genug nach dem Tod, hahaha...

Ich schaue mich um. Anke ist auch da. Ich habe sie vor ein paar Monaten zufällig in einer Bar getroffen. Ich saß dort und nuckelte an meiner Sprite. Jemand fragte mich von hinten, ob ich Feuer habe. Als ich mich umdrehte, stand sie vor mir. Nach dem gegenseitigen Erkennen war sie wohl genauso überrascht wie ich. Was sie denn hier macht, habe ich sie gefragt. Zuerst hat sie herumgedruckst, fing dann aber doch an zu erzählen, dass sie bei einem Hostessenservice arbeitet. Ich habe versucht meine Miene nicht zu verziehen, aber vielleicht hat sie es mir angesehen, wie überrascht ich war, denn sie setzte sich zu mir, und fing an, sich hektisch zu erklären: Nicht was ich jetzt denke, sie täte das freiwillig, aus Spaß, da gäbe es schon Unterschiede und sie könnte sich die Männer immer aussuchen. Seltsam: Stell dir vor, du gehst abends in einer dieser Bars, wo die Frauen allein mit übergeschlagenen Beinen auf den Barhockern sitzen, mit dem rechten Fuß auf und nieder wippen und dich nach fünf Minuten fragen, ob du ihnen nicht einen Drink spendieren willst. Du drehst dich um und es steht eine Klassenkameradin vor dir, mit der du früher auf dem Pausenhof über die Lehrer hergezogen bist, oder den neuesten Tratsch ausgetauscht hast. Weiter war dann auch nichts mehr. Gottseidank hat sie nicht so einen Spruch losgelassen wie: „Du hast mir damals schon so gut gefallen...“ mit einer anschließenden Einladung. Ich habe mich nach einer halben Stunde aus dem Staub gemacht. Jetzt sitzt sie da in der Ecke und kichert gerade mit Doreen und Heike. Ich schaue wieder auf die Uhr: Neunzehn Minuten. Wo bleibt Cornelia?

Astrid erhebt sich grinsend und sagt: „Da es scheint, dass jetzt alle da sind, die kommen wollten, können wir mit der Vorstellung beginnen, was sich in den letzten drei Jahren bei euch so getan hat.“ Sie schaut kurz in die Runde: „Da es nicht so verkrampft losgehen soll, fange ich an. Also - in den letzten zwei Jahren habe ich mein Medizin-Studium abgeschlossen...“ - beifälliges Gemurmel - „...und bin dann anschließend für ein paar Monate nach Amerika gegangen...“ Nach ein paar Minuten ist sie fertig und die Nächste kommt an die Reihe. Es ist Grit: „Ich arbeite weiter bei der AOK, habe dort mir ein Jahr frei genommen, um mein Kind aufzuziehen...“ Und nächster. Die Reihe rückt langsam näher. Ich fange an zu schwitzen und unruhig meinen Hintern auf dem Stuhl hin- und herzuschieben. Was soll ich erzählen? Soll ich erzählen, was die letzten drei Jahre los war? Ich könnte aufstehen und beginnen: „Vor fast genau drei Jahren vor unserem ersten Klassentreffen hat sich Cornelia - die leider noch nicht hier ist - von mir getrennt...“ Und würde wahrscheinlich ehrliches Erstaunen ernten. Tratschfutter wäre es allemal. Was sollte ich dann noch erzählen? Das ich nach einer Weile angefangen habe, wegen der anschließenden Leere und Langeweile ein paar Bierchen zu trinken? Diese berühmten zwei Bier am Abend, damit man nach der Trennung nicht mehr so viel nachdenkt und besser einschlafen kann. Von den drei Bieren, die es wurden? Das es mehr wurde? Das ich nach einer Weile schon eins aufmachte, wenn ich kurz nach vier Uhr von der Arbeit nach Hause kam. Und dann noch ein Zweites hinterher. Und das ich am Abend noch eins zum Abendbrot knackte. Und nach dem Abendbrot wieder ein Fernseh- und zwei Einschlafbier. Am morgen wacht man zwar mit einem schweren Kopf auf, aber zwei Aspirin und eine Menge Mineralwasser helfen. Nach einer Weile hat man sich an das Bier gewöhnt und weiß überhaupt nicht mehr, wie es anders gewesen sein soll. Und keiner schaut einen schräg an, wenn man sich alle zwei oder drei Tage eine Palette aus dem Supermarkt holt.

Ich schaue auf die Uhr: 24 Minuten ist sie schon zu spät. Tino spricht gerade über seinen Job an der Universität. Er ist dort als Mitarbeiter an einem Lehrstuhl eingestellt worden. Da hat er echt Glück gehabt, solche Stellen sind rar. Also, was soll ich erzählen? Soll ich über die Wochenenden mit meinen Kumpels erzählen? Über die Wochend-Männertouren auf die Zeltplätze in der Umgebung, wo neben Bier auch Whisky, Wodka und Goldkrone getrunken und sich ohne Gnade die Kante gegeben wurde? Mit Hartstoff, der deine Gehirnzellen besser entlaubt, als Agent Orange den vietnamesischen Dschungel. Dass es längst nichts mehr mit dem kindischen Pennälerbesäufnissen zu tun hatte, diese drei-große-Bier-und-eine-Viertel-Pulle-Schnaps Kinderkacke, die einen noch vor ein paar Jahren wegen Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht hätte. Dort ging es einfach nur ohne Gnade um Spritzufuhr, bei dem das Bier die Funktion von Mineralwasser, Brause, Cola übernahm.

Ich schaue wieder auf die Uhr: 26 Minuten ist sie über die Zeit. Ah - der herbe Geschmack eines eisgekühlten Bieres. Früher konnte ich das nie verstehen. Bier war einfach bitter und fertig. Aber nach Hause zu kommen, nach einem langen Tag auf Arbeit, den ganzen Rückweg mit dem Gedanken an die eisgekühlte Flasche, die man zitternd aus dem Kühlschrank holt und dann der lange erste Zug...

Sven ist gerade aufgestanden und fängt an zu erzählen: „Wie ihr euch vielleicht vom letzten Mal erinnern könnt, habe ich bei Volksbank gearbeitet. Vor etwas einem Jahr bin ich dort als Anlageberater befördert worden. Mit Kathleen bin ich verheiratet, Ronald und Grit waren ja bei der Hochzeit da...“

Die eigentlichen Probleme fingen nicht wegen dem Bier an, das ich nach einer Weile wie Wasser trank, sondern der Hartstoff, an den ich mich auch noch gewöhnte. Der macht aggressiv. Die ganzen dämlichen Barrieren im Kopf sind einfach nicht mehr da. Und die Welt ist wie in Watte gepackt. Ich hatte eine Zeitlang wegen meiner immer stärker werdenden Raucherei Durchblutungsstörungen in den Hoden. Ich bin mit einem ständigen Kneifen durch die Gegend gelaufen, das sich bis in den Oberschenkel heruntergezogen hat. Nach ein paar Bier und ein, zwei kleinen Schnäpsen war der Schmerz weg. Das meine ich mit „die Welt in Watte einpacken“. Oder das Gefühl von der Arbeit zu kommen, mit hämmernden Kopfschmerzen, und dann zu merken, wie diese nach ein paar kräftigen Zügen langsam weggespült werden...wo bleibt nur Cornelia? 29 Minuten über die Zeit. Verdammt noch mal!

Über zwei Jahre ging das so. Mit den Details dieser Zeit will ich niemanden belästigen. Die Tage mit unglaublichen - in ihrem Elend fast schon majestätischen - Hang-Overn, an denen man sich wie ein Stück geheckselter Elefantenkacke fühlt, die Zeiten mit der Flasche auf Arbeit, gut versteckt, Kaugummis immer in Reichweite...

Dann kam der Abend, an dem das ganze Kartenhaus zusammenfiel, um ein Klischee anzuführen - der Barkeeper die Rechnung präsentierte. Es war ein schwülheißer Tag, an dem mir gar nichts anderes übrig blieb, als Nachmittags von der Arbeit kommend das erste Bier zu trinken und einfach nicht mehr aufzuhören. Martin kam mich besuchen. Wir redeten, rauchten und tranken. Gegen 18 Uhr ging es in eine Kneipe, da kamen die ersten harten Drinks. Es war großartig, die untergehende Sonne, die etwas abgekühlte Luft, wir saßen draußen auf der Terrasse, der bernsteinfarbene Whisky, der in meiner Hand auf meinen Mund, meine Kehle, meinen Magen und mein Blut wartete. Dann ging es in einen Club. Ab da weiß ich nicht mehr allzu viel. Deutlich erinnern tue ich mich nur noch an das Pärchen, das neben uns saß. Das Mädchen hatte braune Haare wie Cornelia. Ich bin einfach von hinten an sie heran und habe ihr ein bisschen am Hintern rumgegrabelt. Sie hat gar nicht reagiert. Ihr Typ hat es gesehen, ist wütend geworden und hat gesagt, ich soll mich verpissen. Martin wollte mich wegziehen. Ich soll wohl zurückgebrüllt haben, er solle ruhig zu mir kommen - durch solche Flachzangen wie ihn würde ich glatt durchlaufen. Da hat der Typ Schiss bekommen, ist zum Barkeeper gedackelt und hat sich beschwert. Die Folge war, dass Martin und ich gehen sollten. Wegen so einer Lappalie! Sie haben uns rausgeschoben und als sie uns draußen hatten, wurde auf einmal alles rot und schwarz mit kurzen Bildabfolgen. Martin hat erzählt, dass ich versucht habe, wieder einzukommen. Erst hätte ich an die Tür gehämmert und dann versucht, ein Loch in den unteren Teil der Tür hineinzutreten um in den Club wieder hereinzukriechen. Ich hatte es fast schon geschafft - ein kopfgroßes Loch hatte ich mir in Fußhöhe schon zurechtgetreten. Martin hat erzählt, ich hätte den Kopf durchgesteckt und geschrieen, sie sollen mich gottverdammt noch mal wieder reinlassen und mir was zu trinken auf den Tisch stellen. Dann kamen die Bullen. Ab da war bei mir kompletter Filmriss. Ich weiß nur noch, wie etwas an meiner linken Wange wehtat und ich die Pflastersteine ein paar Zentimeter vor meinen Augen sah, während hinter mir jemand grob die Handschellen um die Handgelenke schloss.

Wieder ein Blick auf die Uhr: Sie ist jetzt schon über eine halbe Stunde zu spät. So wie es aussieht bin ich bald mit meiner Geschichte dran.

Die Bullen soll ich tätlich angegriffen haben. Ein besoffener Irrer, der es mit vier Bullen gleichzeitig aufgenommen hat. An das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, wie ich einem Bett mit weißem Laken und weißer Bettwäsche aufwachte. Ich stand auf und wollte mir die Hände wäschen. Ich wusste im ersten Augenblick gar nicht, wer mir im Spiegel gegenüber steht. Eine Platzwunde auf der linken Stirnhälfte, Blut an den Schläfen und quer über das Gesicht, das linke Auge zugeschwollen, das Rechte blutunterlaufen mit meterdicken grauen Augenrändern. Es war ein geprügeltes Tier, dass mir im Spiegel entgegenschaute. Ich schob mir mit einem höhnischen Grinsen die Haarsträhne aus dem Gesicht, doch ich konnte das Grinsen nicht aufrecht halten. Es hatte sich ausgegrinst und ich wusste es. 3.0 pro Mille haben sie festgestellt. Vier Tage später ging ich freiwillig in der Reha. Zwölf Wochen hat es gedauert, dann war ich trocken. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich schaue auf den Tisch. Die meisten Gläser sind ausgetrunken. André beendet gerade seinen Vortrag über seinen Abenteuerurlaub auf Ibiza letzten Sommer. Verdammt, wo zur Höhle bleibt Cornelia? Ich habe immer noch nichts bestellt. Ich schaue auf die Uhr: Fast eine Dreiviertelstunde ist sie über die Zeit. Sie kommt wohl heute nicht mehr. Dabei hätte ich gern mit ihr ein bisschen geplaudert, über die alten Zeiten, über uns, über die Zeit nach dem uns. Jetzt sitze ich hier allein und Ronald neben mir erzählt gerade was von einem Weiterbildungskurs, den er gerade macht. Als nächstes bin ich dran. Ich habe immer noch nichts zu trinken und Cornelia ist immer noch nicht da. Ich bin gleich dran. Gleich bin ich dran. Gleich. Gleich bin ich dran.

Aber vorher bestelle ich mir noch etwas. Ich hebe die Hand, winke der Kellnerin, die sich gerade gelangweilt mit der Hand auf den Tresen abstützt. Ah - der herbe Geschmack eines eisgekühlten Bieres...

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