Heute ist mein Tag

Als der Wecker um sieben Uhr klingelt, springt er aus dem Bett und geht unter die Dusche. Er seift sich die Haare mit Shampoo ein und denkt über seinen letzten Traum nach. Er fuhr mit einem Fahrrad über einen Feldweg durch eine sonnige Frühlingslandschaft. Ein guter Traum. Besser als der, den er hatte, als er kurz nach vier Uhr schreiend aufwachte. Seine Ex-Frau hatte versucht, ihn in der Badewanne zu ertränken. Seltsamerweise konnte er unter Wasser atmen und sich befreien, indem er ihr einen Schlag gegen die Kehle verpasste. Er spült das Shampoo aus den Haaren und dreht das Wasser ab.

Er schlägt die Tür zu und schaut in seinen Rucksack. Zwischen ein paar alten Zeitungen und einem Buch liegt sie. Draußen ist es sonnig, ein leichter Wind rauscht in den Rosenstöcken vor dem Haus. Er lauscht dem Vogelzwitschern, schließt lächelnd die Augen und geht langsam zur Bushaltestelle. Dort stehen wie jeden Morgen die stark Geschminkte mit der blondgefärbten Explodierfrisur und die Oma mit den Stützstrümpfen und der schlecht sitzenden Grauhaarperücke. Er zeigt dem Fahrer seinen Fahrausweis, setzt sich in die hinterste Reihe, setzt den Kopfhörer auf und drückt die Play-Taste des Walkmans. Während eine Gitarre sirenenartig jault, grölt der Sänger seine einfachen Weisheiten von Freiheit und Auflehnung, die mit Melodie unterlegt immer so unwiderstehlich wirken. Er schaut in die vorbeifahrenden Autos. ‚Heute ist mein Tag.’, denkt er. Am Bahnhof kauft er sich eine Schoko-Milch. Er denkt an die Hofpausen in der Schule, wo er jeden morgen seine Schoko- oder Fruchtmilch trank und sich mit seinen Freunden über Colt Sievers und Alf unterhielt. Nachdem er ausgetrunken hat, wirft er die Flasche in den dafür markierten grünen Container und zieht eine Zigarette aus der Packung. Ihm gegenüber hängt ein Plakat. Eine Frau sitzt an einem weißen Strand und blickt ihn über ihre rechte Schulter an. In ihrer rechten Hand hält sie ein Eis, von dem sie genussvoll abbeißt. Das Eis könnte auch dein Schwanz sein, sagt ihr Blick. Er zündet die Zigarette an. Die Bahn fährt ein, Türen öffnen sich, Leute laufen vorbei. Er schaut in ihre Gesichter, raucht die Zigarette bis zur Hälfte auf, tritt sie auf dem Boden aus und steigt ein. Durch das Fenster der Bahn schaut er wieder zu dem Plakat. Eine Verheißung von Liebe, Glück und Sex, ohne die geringste Aussicht auf Erfüllung. Nur wenn man das Eis kauft, für das die blonde Nymphe wirbt, wird man vielleicht ein Stück Erfüllung kaufen, ein Stück von dieser Frau, ihrem makellosen braunen Rücken und den Gedanken an den eigenen Schwanz in ihrem Mund. Der Summer ertönt und die Türen schließen sich. Er setzt den Kopfhörer des Walkmans auf und schaut den Leuten in ihre verkrampften Arbeitsgesichter. Irgendwie hatte er sich das Erwachsensein anders vorgestellt. Er hatte sich vorgestellt, an irgendeiner tollen Sache zu arbeiten, nach einem Mittel gegen Krebs zu forschen oder Hebamme zu werden, um Kinder an das Licht der Welt zu zerren. Irgendwas mit einem Sinn und einem Ziel, etwas, das er mit Begeisterung und Leidenschaft tun konnte. Jetzt begann er schon nach der Mittagspause die Sekunden und Minuten zu seinem Feierabend herunterzuzählen. Irgendwann fiel ihm auf, dass das seine Sekunden und Minuten waren, die er da runterzählte. Er zwingt sich, aus dem Fenster zu schauen, weg von den Menschenmasken, ihrem unterschwelligen Frust, ihren Zwängen und Ängsten, der Geringschätzung für ihr eigenes Leben. ‚Heute ist mein Tag.’, denkt er und schaut zum Himmel. Wie oft ist er diese Strecke hin- und zurückgefahren, müde hin, noch müder und ausgelaugt zurück? Wie oft ist er nur mit dem Gedanken an die zwei Bier im Kühlschrank nach Hause gegondelt, die er vor dem Fernseher, die Augen auf eine stupide Sendung gerichtet, in sich hineinschlürfen würde?
‚Wie oft hast du in den letzten Jahren wirklich gelebt?’, denkt er. ‚Wie oft hast du den Augenblick gespürt, bist mal wieder so in einer Frau gekommen, dass du an das erste Mal denken musstest? Wie oft hast du auf Bahnhöfen gesessen, an Ampeln gewartet, an Schlangen angestanden, wie oft bist du einfach nur so da gewesen in diesem grauen, lauwarmen und komfortablem Nichts, in dem du lebst?’
Die Bahn fährt in den Bahnhof ein.
‚Das wird sich heute ändern.’, denkt er und steht auf.
Ein Jugendlicher steht neben ihm an der Tür und drückt hektisch die Auf-Taste, obwohl der Zug noch nicht angehalten hat. Endlich wird die pneumatische Sicherung gelöst.
‚Was werden meine Eltern von mir halten?’, denkt er, als er die Füße auf den Bahnsteig setzt. ‚Werden sie es verstehen? Vater sicher nicht. Er war so stolz, dass ich auf die Universität gegangen bin. Er, der sein Leben lang Leute durch die Gegend gefahren hat. Und Mutter?’
Während er die Stufen hinuntergeht, zündet er eine Zigarette an und inhaliert tief. Vor ihm läuft ein junges Mädchen. Durch die hochgesteckte Frisur ist ihr Nacken entblößt, sie hat ein enges, hellblaues T-Shirt an, unter dem sich der BH abzeichnet. Er macht keine Anstalten sie zu überholen, um einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. Sie wird das Mädchen mit dem hübschen Nacken bleiben, das reicht ihm. Beide treten aus dem Bahnhof, sie biegt rechts ab, er nach links. Wenn er zügig läuft, braucht er zwölf Minuten bis zur Arbeit. Doch heute hat er es nicht eilig. Heute ist sein Tag.
Als er dem grauen T-förmigen Gebäude näher kommt, verlangsamt sich sein Schritt. Seine Handinnenflächen werden feucht. ‚Vielleicht ist es doch falsch’, denkt er und wischt sie sich an seiner Hose ab. ‚Vielleicht sollte ich es verschieben. Auf morgen beispielsweise. Oder übermorgen. Oder ich sollte es mir nochmal ganz überlegen.’
Er bleibt stehen, öffnet seinen Rucksack und schaut wieder hinein, als wenn er dort eine Bestätigung für seine geplante Aktion sehen würde. Er steckt sich eine neue Zigarette an. Keiner seiner Freunde wird dafür Verständnis haben. Er wünscht sich, etwas abgeklärter sein zu können, einfach hineinzugehen und das zu tun, was er sich vorgenommen hat. Als Kind hat er sich immer vorgestellt, wie schön es wäre, der „Terminator“ zu sein. Ihm hatte die Vorstellung gefallen, ohne Emotion durch die Welt zu laufen, von den Leuten bewundert und gefürchtet zu werden und zur Not auch mal jemanden wegzupusten. Er raucht die Zigarette auf und geht weiter.

Er wünscht dem Pförtner einen guten Morgen. Vor dem Fahrstuhl bleibt er stehen und drückt auf den „Auf“-Knopf. An manchen Tagen wartet hier eine kleine Rothaarige mit ihm. Er hat sich nie getraut sie anzusprechen. Dabei ist sie niedlich, wenn sie im Fahrstuhl immer betreten zu Boden schaut und ihr die langen roten Haare über das Gesicht hängen. Wenn sie heute da wäre, würde er sie ansprechen. Sicher würde er das. Die Tür öffnet sich. Er geht hinein. Welche Taste soll er drücken? Wie sonst immer die „5“? Oder gleich die „8“ für die Chefetage? Einfach hinauffahren und die Sache hinter sich bringen. In wenigen Minuten wäre es vorbei. Nun kommt doch noch jemand in den Fahrstuhl. Er drückt hastig die „5“, lehnt sich an die Fahrstuhlwand und schließt die Augen. Was soll das Zögern? Im Büro schaltet er den Computer an und geht in die Küche. Dort steht Frank und gießt sich Kondensmilch in seine Tasse.
„Wir haben um 11 Uhr ein Meeting mit den Leuten von WARP.“, sagt er ohne zu grüßen.
„Wollten die nicht erst morgen kommen?“
„Der Termin ist vorverlegt worden. Kommst du danach mit zum Essen?“
„Mal sehen.“
Er geht mit seiner Tasse Kaffee zurück in sein Büro und bleibt im Türrahmen stehen. Ein paar Bilder hängen an der Wand und eine grüne Topfpflanze steht in der Ecke, der Tisch ist grau, der Bodenbelag dunkelgrau, der Computer und Monitor sind grau. Er setzt sich auf seinen schwarzgrauen Bürostuhl, stellt die Tasse ab und schaut auf den Bildschirm. „Benutzername und Passwort eingeben“ steht dort. Der Cursor blinkt. „Benutzername und Passwort eingeben“. Seine Hände gehen zur Tastatur, zucken wieder zurück, gehen wieder hin. „Benutzername und Passwort eingeben“. Er lässt seine Hände sinken. „Benutzername und Passwort eingeben“. Er steht auf, nimmt seinen Rucksack und verlässt das Zimmer. ‚Ich muss mich in Eis verwandeln.’, denkt er und versucht das Herzklopfen zu ignorieren, als er die Treppe zur Chefetage hochgeht. Als er vor dem Sekretariat steht, atmet er tief durch. Eine Zigarette wäre jetzt nicht schlecht. Egal.
„Ist der Chef zu sprechen?“
„Gehen sie einfach durch.“
Die Tür zum Büro des Chefs ist offen. Er hat sich oft vorgestellt, was er in diesem Augenblick zu ihm sagen soll. Irgend etwas gewichtiges, dem Anlass angemessenes. Stattdessen bringt er nur ein mit trockener Kehle gesprochenes „Ich habe etwas für Sie.“ heraus. Er stellt den Rucksack auf dem Boden ab, öffnet ihn und zieht sie heraus. Er geht ganz dicht an den Tisch und streckt sie seinem Chef entgegen. 
„Was ist das?“
„Meine Kündigung.“
Er klatscht den weißen unbeschrifteten Umschlag auf den Tisch und spürt, wie ein Lachen in ihm hochsteigt.
„Schönen Tag noch.“ , bringt er mühsam hervor und verlässt ohne eine Antwort abzuwarten das Büro. Auch diesmal nimmt er nicht den Fahrstuhl. Er lacht lautlos, mit aufgerissenem Mund, während er die Treppe hinuntertänzelt. In seinem Büro räumt er ein paar Sachen in seinen Rucksack. Seine Gedanken gehen zum Rest des Tages und den Dingen, die er tun kann. Zum Beispiel könnte er den Himmel beobachten und sich fragen, ob er Glück hat, und zu seinen Lebzeiten ein Komet einschlägt. Er lacht auf, diesmal laut, macht den Rucksack zu und fährt mit drei Mausklicks den Computer herunter.

Für Sebastian Ganzlin

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