Dominik Rollak

Dominik Rollak setzt sich an den Küchentisch seiner modernisierten Altbauwohnung, in der linken Hand eine Tasse Kaffee, in der Rechten das Manuskript seines neuen Romans. Sein erstes Buch „Das Vergessen des Gestirns“ war vor drei Jahren veröffentlicht worden, zwei Jahre später folgte die Kurzgeschichtensammlung „Ratten gehen niemals unter“, mit dem er sich erstmals im Feuilleton einen Namen machen konnte. Vorbei die Zeiten, als er sein Gehalt in der Buchhaltungsabteilung eines großen Nudelherstellers verdiente, nach Feierabend bis drei Uhr morgens am Küchentisch saß und völlig übermüdet an seinem ersten Manuskript, einem bizarren Mutter-Tochter Beziehungsdrama schrieb. Als sich die Ablehnungen der Verlage anhäuften, kaufte er sich eine Pinnwand, an die er sie heftete. Als diese voll war, begann er zu glauben, dass er unfähig war, zu den Leuten durchzudringen. Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die x-te Kopie seines ersten Manuskriptes war auf dem Schreibtisch eines Lektors gelandet, dem es gefiel. Ab da lief alles wie auf Schienen: Nach der Veröffentlichung folgten Lesereisen, Interviews, Diskussionsrunden. Er gewann ein Stipendium, dass ihm zusammen mit den Bucheinnahmen ermöglichte, seinen Job aufzugeben und sich seinem zweiten Roman zu widmen. Eines Morgens wachte er  auf und begriff, dass er angekommen war. Es war ein befreiendes Gefühl, gemischt mit einem leichten Unwohlsein. War es das, was er erreichen wollte? Was gab es jetzt sonst noch, als immer weiter Bücher zu schreiben, mal bessere, mal schlechtere bis zum Ende seines Lebens?

Vor fast einem Monat hatte er „Ende“ unter sein neuestes Projekt geschrieben, 124 Seiten, 75.000 Wörter, eine Geschichte über zwei gescheiterte Musiker und ihren letzten Versuch, das Schicksal umzustimmen. Jetzt begann das Überarbeiten. Er hatte das Gefühl, solide Arbeit geleistet zu haben, aber er wusste, dass erst die Hälfte des Weges zurückgelegt war. Kein Problem. Es schlug die Alternative Buchungsbelege für Eieranlieferungen auszustellen. Er redigierte fast vier Tage am Stück, nur unterbrochen durch unregelmäßige Mahlzeiten, Schlaf und ein paar kurze Spaziergänge. Wenn der Stoff ihn richtig hatte, rückte die Realität weit weg. Er liebte das Gefühl, sich in eine andere Welt zu versetzen. Es erforderte hohe Konzentration, aber mittlerweile hatte er darin so viel Übung, dass er nicht wie früher den Alkohol brauchte. Der machte den Sprung zwar einfacher, doch mit ihm war es auf Dauer schwerer, das Leben in der Wirklichkeit weiterzuführen. Nachdem er das Manuskript neu geordnet hatte, war er erstaunt, wieviel er weggestrichen hatte. Von den 124 Seiten waren knapp 70 übrig geblieben. Verwirrt ging er alles nochmals durch, doch an den Streichungen ließ sich nichts aussetzen. Er hatte nur störendes Beiwerk entfernt. Der Leser konnte jetzt einfacher zum Kern der Geschichte vordringen. Und darauf kam es an. Zufrieden packte er es in die oberste Schublade seines Schreibtisches und rief Manuela an.

Drei Wochen später holte er es wieder heraus. Mit Manuela hatte er es diesmal knapp zwei Wochen ausgehalten, erst flogen wieder die Argumente, dann seine Sachen durch die Gegend. Sie warf ihm vor, er sei ein egoistisches beziehungsunfähiges Schwein, das sie nur benutzen würde. Vielleicht hatte sie recht, er wusste es nicht. Er war nicht in der Lage, sein Verhalten anderen gegenüber zu analysieren, er wollte nur Geschichten schreiben. Auf jeden Fall war Schluss. Mal wieder für immer. Zurück nach Hause wollte er noch nicht, deswegen nahm er sich ein Hotelzimmer in ihrer Nähe, soff und ließ rund um die Uhr den Pornokanal laufen. Als er sich zu Hause wieder an das Manuskript setzte, erkannte er noch deutlicher, was er mit der Geschichte sagen wollte. Er strich ganze Handlungsstränge und Personen heraus. Er erlebte ein kaum gekanntes Glücksgefühl, noch viel stärker als das vor drei Wochen. Er spürte, dass er dem Kern der Geschichte immer näher kam. Vielleicht nicht nur dem Kern, sondern einer allgemeingültigen Wahrheit, die sich hinter den Sätzen verbarg. Als er fertig war, zog er sich eine Jacke über und lief mit einem Lächeln durch die Straßen der Stadt. Später zählte er nach und stellte fest, dass 17 Seiten übriggeblieben waren. Aber es war das mit Abstand Beste, das er jemals geschrieben hatte. Vielleicht würde die mittlerweile auf Essaygröße zusammengeschrumpfte Geschichte für noch größeres Aufsehen als sein Kurzgeschichtenband sorgen. Er sah sich schon mit lässiger Miene in Talkshows sitzen und mit lockerem Charme Bonmots und hausbackende Literaturweisheiten von sich geben. Dominik Rollak - die neue Literaturhoffnung. Scheiß auf die Neuromantiker und Literaturphilosophen wie Schneider und Konsorten. War er überhaupt nochmals in der Lage etwas von solch brillanter Dichte schreiben zu können? Darüber konnte er sich später noch Gedanken machen. Morgen würde er die literarische Briefbombe in einen gepolsterten Umschlag stecken und es zu seinem Lektor schicken.

Unruhig wälzt er sich hin und her. Er kann nicht einschlafen, spürt noch das Adrenalin seines vergangenen Kahlschlages in sich. Er macht das Licht an. Das Manuskript liegt noch uneingepackt auf dem Küchentisch. Vorsichtig schaut er noch einmal über die Zeilen. Gleich fällt ihm ein Abschnitt ins Auge, der noch verbesserungswürdig ist. Er holt einen Stift aus dem Wohnzimmer und beginnt seine Arbeit. Noch einmal redigiert er wie im Rausch, sein Herz schlägt heftig, Schweiß steht auf seiner Stirn. Mit schmerzhafter Klarheit sieht er, was er mit der Geschichte wirklich sagen will. Fast ist es so, als wenn er durch die Wörter hindurchschauen kann, um dahinter nach etwas zu greifen. Während er fieberhaft streicht, fragt er sich, ob sich so tiefgläubige Menschen fühlen, wenn sie eine gottähnliche Erfahrung haben. Als die aufgehende Sonne durch das Küchenfenster schaut, ist er fertig. Er wirft den Stift auf den Tisch und geht ins Bett.

Er wacht auf und spürt den Schweiß auf seinem Körper. Langsam kommt die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück. Als er in die Küche kommt, sieht er die verstreuten Manuskriptblätter auf dem Tisch. Er besieht sich das Ergebnis seines nächtlichen Amoklaufes. Der Rotstift wurde auf jeder Seite angesetzt, überall rot, nur rot, rot, rot. Nichts ist verschont geblieben. Nur noch ein Satz auf Seite 8 ist übrig. Dominik weiß, dass er am Ziel ist. Besser kann er nicht mehr werden, das Maximum ist erreicht. Er nimmt zum letzten Mal den Stift zur Hand, streicht den Satz durch und geht duschen.

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