Alles
im grünen Bereich
Ich
hatte zum Abendbrot Rührei gehabt. Das sah man noch, als es mir halbverdaut vor
die Füße klatschte und nebst dem Straßenpflaster auch den Laternenpfahl, an
dem ich mich festhielt und meine Schuhe traf. Dass mich der Alkohol noch mal so
tief sinken lassen würde! Nicht, dass ich nicht vorher schon gekotzt gehabt hätte
nach halb durchzechten Nächten, nicht, dass ich es nicht schon vorher mal nicht
mehr zur nächsten Toilette geschafft hätte... aber eine Straßenlaterne im
Friedrichshain, nachdem Kalle gerade noch das Auto hatte stoppen können - das
war die ultimative Krönung.
„Schau’
mal, Rührei!“ meinte ich und sah Michy mit einem schiefen Grinsen an.
„Mann, Lily, Du hast vielleicht Nerven! Lass’ uns nur von hier verschwinden! Denkst Du, Du hältst bis zur nächsten Tanke durch?“
„Jaja“,
lallte ich und nahm mit einem dankbaren Blick seinen mir angebotenen Arm, um
mich daran festzukrallen.
Als
ich zurück auf den Rücksitz kroch, murmelte Kalle etwas von „bist Du
o.k.?“ Das ist für seine Verhältnisse verdammt nett, denn er hasst Alkohol,
hat noch nie in seinem Leben einen Tropfen Prozentiges getrunken, noch nicht mal
`ne Schnapspraline, und ist daher für immer und ewig dazu verdammt, nachts um 2
Schnapsleichen durch die Gegend zu chauffieren. Ich dachte, soweit man davon in
meinem Zustand noch sprechen konnte, ich sollte ihm vielleicht was Nettes sagen
und erzählte ihm mit einem beschwichtigenden Lächeln:
„Ja,
ja, ich hab’ mir den Abend nur noch mal durch den Kopf gehen lassen.“
O.k.,
ich gebe zu, ich habe schon originellere Sprüche gemacht, aber in diesem Falle
ging es auch eher darum, überhaupt noch einen machen zu können.
Das
nächste, woran ich mich erinnern kann, war, dass ich fluchend versuchte, den
Schlüssel richtig herum ins Schlüsselloch zu verfrachten. Es war schon schwer
genug gewesen, sich bis zum 5. Stockwerk am Geländer hochzuziehen. Wenigstens
schaffte ich es den Rest der Nacht rechtzeitig zum Klo, wenn auch am nächsten
Morgen die Badematte und mein geliebtes Schlaf-T-Shirt ein paar Flecken hatten.
Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde - hat schon Udo Jürgens gesagt.
Biologisch abbaubar, politisch korrekt und fast steuerfrei. Gesellschaftsdroge
Alkohol. Alles im grünen Bereich.
Die
nächsten zwei Tage lief ich ein bisschen geduckt durch die Gegend und trank
artig Tee, Saft und Wasser. Na ja, wenn man mal von den 5 Tassen Kaffee und dem
Gläschen Sekt mit Tina und Sybille absieht, aber wir hatten uns ja auch
wirklich ewig nicht mehr gesehen! Dann trafen wir uns im Pub - wie jeden ersten
Mittwoch im Monat. Ein bisschen diskutieren, Neuigkeiten austauschen. Eine
geniale Tradition, wenn man sonst meist schwer beschäftigt ist. Ich war - wie
üblich - die erste und schlürfte gelangweilt meinen Irish Coffee, als Chris
hereinkam. Er sah verdammt gut aus - wie immer, und noch bevor er sich
hingesetzt hatte, sprühten Funken aus unseren beiden Augenpaaren als wären wir
frisch aus einem Science Fiction Film gehüpft. Beam
me up, Scotty!
„Hey,
was macht die Kunst?“
„Och,
alles fit! Waren am Wochenende in Frankfurt Oder. Fußballturnier. 4 zu 1
verloren. Gab’ aber `ne gute Party hinterher. Ich bin erst am Sonntagabend
wieder zu mir gekommen.“
„Hör’
bloß auf! Ich hab’ im Friedrichshain an `ne Laterne gekotzt!“
„Tj,
tj, tj, böses Mädchen! Schämst Du dich nicht?“
Funkel,
funkel ... das versprach ein netter Abend zu werden.
„Trinkst
Du noch so einen?“
„Klar,
warum nicht?“
„O.k.,
ich hol uns mal zwei.“
Er
stiefelte zur Bar und ich bewunderte seinen Hintern. Ich kenne Chris seit
vielleicht 4 Jahren - zum ersten Mal traf ich ihn auf dieser Gartenparty, als er
sturzbetrunken ins Erdbeerbeet pinkelte und aus welchen Gründen auch immer
meinen Bruder kastrieren wollte.
Er
ist der herzensbeste Mensch, den ich kenne. Wann immer wir uns begegnen - ohne
Partner an unseren Seiten versteht sich - fliegen die Funken nur so durch den
Raum. Allerdings ist bisher nie etwas zwischen uns gewesen. Das Problem mit
Chris ist, dass es ihm manchmal einfach zu gut geht, und dann muss er sein Glück
in ein paar kühlen Bier ertränken. Auf diese Weise hat er auch schon Papis
Auto an einen Baum gesetzt, aber ich denke, das war ihm eine Lehre.
Ich
meine, wir sind nicht lebensmüde oder so! Wir fahren nicht, wenn wir getrunken
haben. Immerhin haben wir alle Abitur. Dass wir gern feiern und lustig sind -
wer sollte uns das zum Vorwurf machen? Wir sind schließlich jung. Und wir könnten
auch ohne Alkohol fröhlich sein. Aber warum sollten wir?
Inzwischen
sind auch Astrid und Tim da, und wir knabbern Erdnüsse. Vom Irish Coffee
steigen wir auf Kilkenny um. Es wird warm in der Gaststube. Wir lachen und
albern. Am Nebentisch fällt ein Bierglas um.
Dann
kommt David rein:
„Hi
Leute - was gibt’s Neues?“
„Na,
bist Du wieder vor’m PC eingeschlafen?“ witzelt Tim.
David
studiert Informatik und schreibt schon seit Monaten an einem Programm für ein
Projekt, das schon längst fertig sein sollte. Er redet ständig davon, nur weiß
niemand so recht, wann er daran arbeitet. Er jobbt in einem Fast Food Restaurant
und an einer Tankstelle, lernt Gitarre, ist Mitglied bei Greenpeace und geht
zweimal in der Woche zum Fußball. Und er ist bei jeder Party dabei. Und hin und
wieder sieht er sogar seine Freundin. Er hat immer Geldsorgen, obwohl er ständig
neue CDs kauft, und wenn er mal programmiert, kocht er sich meistens starken
Kaffee, denn es ist ihm tatsächlich schon einige Male gelungen, vor seinem
Bildschirm einzuschlafen.
„Hab’
bis eben gearbeitet. In der FH drüben ist 80er Disco - kommt ihr mit?“
O.k.,
ich geb’s zu. Wir gehören zu diesen zurückgebliebenen 80er Kids, die
stehenbleiben und andächtig lauschen, wann immer sie Synthesizerklänge
vernehmen. Aber da wir alle vielbeschäftigte Karrieremenschen sind, setzt jetzt
erst mal die Jammerphase ein:
„Ich
hab’ morgen einen Vortrag im Diplomandenkolloquium“, heule ich: „Ich muss
unbedingt morgen Vormittag noch mal über meine Notizen gehen.“
„Ja,
ich muss wieder um 8 im Büro sein“, verkündet Astrid.
„In
welchem Büro? Ich dachte, Du studierst!“, fragt Chris erstaunt.
Ich
liebe es, wenn er von nichts eine Ahnung hat, was um ihn herum geschieht! Naja,
Alkohol tötet ja angeblich Gedächtniszellen.
„Ich
hab’ doch einen Hiwijob - schon seit `nem halben Jahr. Und mein Prof kommt
morgen erst mittags“, erwidert Astrid.
„Der
kommt doch immer erst mittags“, meint Tim.
„Na
los, nur für `ne Stunde oder so - wenn’s öde ist, können wir ja wieder
gehen“, schlägt David vor.
Das
sind gleich zwei zu gute Argumente. Wir brechen auf. Auf dem Weg zur FH liegt günstigerweise
diese Tankstelle, an der wir zumindest noch eine 1,5 - Liter Flasche billigen
Rotwein und ein paar Zigaretten nachfassen können. Nicht, dass wir
normalerweise rauchen würden. Außer Chris hat nie jemand Zigaretten, und
selbst der raucht nicht während der Arbeit. Aber wenn wir alle zusammen kommen
und feiern ... na ja, da ist es halt etwas anderes. Das ist kein Zwang, keine
Sucht - das ist Genuss und gehört dazu. Wir
laufen beschwingt durch die menschenleeren Straßen, auf denen zu dieser Zeit
kaum noch jemand unterwegs ist. Dies ist der Stadtrand. Hier werden die Bürgersteige
um 8 Uhr hochgeklappt.
„Wo
ist denn eigentlich Kai schon wieder?“, fragt David.
„Der
muss bestimmt wieder Wäsche waschen“, tönt Tim.
Alles
lacht.
„Nee,
nee, aber Nadine war doch 3 Tage auf Schulung und kommt heute Abend zurück. Ich
glaube, er wollte sie vom Bahnhof abholen.“
Die
meisten in unserer Clique haben feste Partner. Es ist ein Sport, sich über die
anderen lustig zu machen, weil sie unter’m Pantoffel stehen. Aber jeder nimmt
seine Beziehung ernst, auf seine Art. Und wir alle wissen, dass das gut so ist
und sind froh darüber. Naja, ich erwähnte ja bereits, dass wir alle Abitur
haben.
In
der FH ist schon ziemlich gute Stimmung. Chris zahlt meinen Eintritt, während
ich mit verschränkten Armen die Weinflasche unter meinem Mantel in den Saal
schmuggele. Die FH - Partys sind immer von Studenten organisiert und - so nett
und preisgünstig sie auch sind - stets von großer Alkoholknappheit
gekennzeichnet, so dass man nur als Selbstversorger überleben kann. Wir
verziehen uns in eine ruhige Ecke und versuchen, die lästige große Flasche so
schnell wie möglich loszuwerden. Hopp, hopp, hopp ... na, Sie wissen schon.
Und
dann tanzen wir. Ich juchze, singe mit, springe herum, schüttle mein Haar und
lasse mich abwechselnd von Chris und David herumschleudern. Es ist wunderbar.
Die mühsam zum hundertsten Mal durchdachten Gedanken des Tages, die Ergebnisse
neuester politologischer Studien und die Artikel, die noch ungelesen in der
Schublade liegen, verschwinden in einem Strudel endloser Leere und weichen einer
angenehmen Trägheit. Meine Ohren sind wie in Watte gepackt, als Chris fragt, ob
ich tanzen möchte. Sie spielen ein langsames Lied - irgendwas furchtbar
kitschiges. Ich fühle mich auf einmal unendlich müde und ein bisschen
verdreht. So gehe ich dankbar auf sein Angebot ein und schmiege mich an seine
Schulter. Seine Hände wandern über meinen Rücken und ruhen bald auf meinem
Po. Er zieht mich noch näher an sich. Von fern höre ich David lachen.
„Ich
hoffe, das stört Dich nicht?“, fragt Chris und nimmt eine seiner Hände für
einen Moment von meinem Hintern.
„Nein,
nein, das ist o.k. - es ist schön, jemanden zum Festhalten zu haben.“
Was
rede ich da eigentlich wieder für einen Blödsinn? Als das Lied zuende ist, ist
die Tanzfläche halb leer geworden. Die meisten sitzen am Rand und unterhalten
sich. Das ist auch wieder so eine Sache zwischen Chris und mir. Wir sind die
Meister leerer Tanzflächen - und meist bemerken wir es noch nicht einmal, weil
wir zu versunken, zu betrunken oder beides sind. Tim kommt auf uns zugesteuert:
„Wir
wollen jetzt abhauen - kommt ihr mit?“
Ich
halte mich noch immer an Chris fest.
„Wie
spät ist es?“
„Halb
2.“
„Oh
Gott, ja, wir gehen besser, ich muss ins Bett.“
„O.k.,
Astrid muss nur noch austrinken. In 5 Minuten.“
„Sorry,
aber ich brauch’ frische Luft“, entschuldige ich mich bei Chris: „Kommst
du mit?“ „Ja“, sagt er.
Ich
schlüpfe in meinen Mantel und gehe voran. In meinem Kopf fahren Schnellzüge
kreuz und quer. Shit. Ich wollte nicht so viel trinken. Ich wollte nicht so
lange bleiben. Immer dasselbe.
„Oh,
oh!“
Peinlich
berührt trennen wir uns, ich wische mir über den Mund. Ich stolpere Arm in Arm
mit Astrid die Straße entlang. Tim und David folgen uns. Chris ist in die
andere Richtung gegangen. Er wohnt drüben hinter’m See.
„Hi,
ich bin’s.“
„Hi
Chris - na, gut zu Hause angekommen?“, frage ich.
„Ja,
Du auch?“
„Ja,
alles o.k. Ich geh’ jetzt ins Bett.“
„Ja,
ich auch.“
„Schlaf’
schön, Chris. Lieb, dass Du noch mal angerufen hast.“
„Ja
- Gute Nacht.“
„Gute
Nacht.“
Ich
lege auf, gehe ins Bad und kotze.
Mein
Vortrag lief ziemlich gut - glücklicherweise war er erst um 16 Uhr. Am Abend saß
ich über einer Hausarbeit, als das Telefon klingelte.
„Hi
Lily – ich bin’s.“
„Ah,
hi Astrid! Na, wieder fit?“
„Naja,
so halbwegs. Heute morgen im Büro war’s ganz schön laut. Und wie geht’s
Dir? War Dir schlecht gestern Nacht?“
„Naja,
schon, aber ich habe ausgeschlafen und ein heißes Bad genommen. Dann ging’s
wieder.“
„Und,
wie war Dein Referat?“
„Oh,
gut - alles im grünen Bereich. Aber ich sollte wohl dieses Wochenende so
trinktechnisch mal ein bisschen kürzer treten. Ich hab’ auch noch ziemlich
viel zu tun.“
„Ja,
ich auch. Aber zu Cindys Party am Sonnabend kommst Du doch, oder?“
„Ah,
Cindys Party, die habe ich ja fast vergessen. Ja klar - Ralf und Patty kommen ja
bestimmt auch. Die habe ich ja ewig nicht mehr gesehen. O.k., dann lass’ uns
noch mal telefonieren wegen der Zeit und wer mit wem fährt und so.“
„O.k.,
ich ruf’ Dich an.“
„Ja,
super. Abends bin ich meistens da. Ansonsten sprich’ mir auf den AB.“
„Gut,
bis dann.“
„
Ja, Ciao!“
„Ciao!“
Ich
lehne mich zurück. Es ist kurz nach 7. Zeit für’s Essen und ein Gläschen
Wein. Mit meinem Vorhaben kann ich ja schließlich auch noch nächste Woche
beginnen.
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